Der Rote Faden – Oliver Roth – Der Börsen-Profi

Aus der Frankfurter Neuen Presse

Es gibt nicht viele Fußballer, die erfolgreich eine zweite Karriere starten. Oliver Roth ist deshalb eine Ausnahme. Er ist ein gefragter Börsenexperte, und er ist ehemaliger Profi. Sogar bei Borussia Dortmund war er unter Vertrag. In die Herzen seiner Fans hat er sich aber als Stürmer von Kickers Offenbach gespielt. Oliver Roth widmen wir Folge 183 unserer Serie „Der rote Faden“, in dem wir jede Woche Menschen vorstellen, die Besonderes für Frankfurt leisten.

Börsenprofi und Profifußballer – eine solche Karriere hat neben Oliver Roth auf dem Börsenparkett niemand vorzuweisen.Foto: Salome RoesslerBörsenprofi und Profifußballer – eine solche Karriere hat neben Oliver Roth auf dem Börsenparkett niemand vorzuweisen.

Montagmorgen, Oliver Roth steht vor der Kamera. Das Rotlicht ist schon an, er ist live auf Sendung. Die Reporterin neben ihm fasst kurz die Lage zusammen: Es ist der erste Börsentag nach dem Putschversuch in der Türkei; nur wenige Stunden zuvor hatte es den Anschlag in Nizza gegeben. Der globale Irrsinn legt gerade wieder ein paar Umdrehungen zu, und die entscheidende Frage an der Börse lautet an diesem Morgen: Wie werden die Händler an den Finanzmärkten reagieren?

Kurz nach neun Uhr ist klar: Gar nicht. In der Türkei brechen die Kurse zwar wie erwartet ein, ansonsten bleibt es ruhig. Der Deutsche Aktienindex Dax startet sogar mit einem leichten Plus. Die oft so nervösen Händler scheint kaum zu interessieren, was in der Türkei passiert.

Hessischer Einschlag

Oliver Roth soll das jetzt erklären. Er ist einer dieser Händler, Kapitalmarktstratege der Oddo Seydler Bank. „Ein Stück weit“ habe er das so erwartet, sagt er. Die Lage sei ja wieder stabil, Erdogan weiter an der Macht, kurzfristig gebe es also keine Veränderungen. Roth hat verstanden, was Journalisten wollen: Bloß keine analytischen, langatmigen Erklärungen. Er spricht mit hessischem Einschlag, und er kann komplizierte Börsenthemen verständlich auf den Punkt bringen, auch sehr schnell, wenn es sein muss. Deshalb ist er ein begehrter Interviewpartner.

Es gibt aber Menschen, die bekommen leuchtende Augen, wenn man sie nach Oliver Roth fragt, und das hat nichts mit der Börse zu tun. Manchmal fallen ihm wildfremde Männer um den Hals, andere zeigen auf ihn oder sie rufen ihm quer über die Straße „Hi Oli“ zu. Oliver Roth hat Fans. Das liegt an seiner zweiten Karriere – als Profifußballer. Bis in die erste Liga hat er es geschafft, zu Borussia Dortmund. Das ist aber nicht der Grund für die Begeisterung. Die Fans hat er, weil er bis heute ein Vereinsheld von Kickers Offenbach ist. „Der Typ ist eine Identifikationsfigur“, sagt einer auf Nachfrage. „Ein Gradliniger, der ging mit dreckigem Trikot vom Platz.“

Oliver Roth hat als Kind schnell gemerkt, dass er besser Fußball spielen konnte, als andere. Oft war er der Jüngste auf dem Platz, er war klein, beweglich und schnell: „Ich war von Anfang an infiziert“, sagt er. „Tore schießen war mein Ding.“

Der kleine Oliver zeigt allerdings ein – selbst für fußballbegeisterte Jungs – ungewöhnliches Verhalten. Wenn es stimmt, was er erzählt, dann ist er irgendwann in der ersten Klasse einfach aufgestanden und auf den Schulhof gegangen, Fußball spielen. Ohne auf den Protest seiner Lehrerin zu achten. Und zwar immer wieder. So kam er als Erstklässler auf stattliche 45 unentschuldigte Fehltage. Seine Lehrerin habe glücklicherweise erkannt, dass Zwang nicht helfen würde, sagt er. Sie habe zwar die Eltern informiert, ihn aber gehen lassen und eher sanften Druck ausgeübt, was am Ende funktioniert habe, die Fehlstunden wurden weniger.

Der fußballbegeisterte Oliver spielt ohnehin ständig, natürlich auch im Verein. Erst beim FSV Bergen und dann, mit 12 Jahren beim FSV Frankfurt, wo er später in der hessischen Oberliga spielt, als Mittelstürmer. Nebenbei macht er eine kaufmännische Lehre, das ist solide und stört nur wenig beim Fußball.

Mit Anfang 20 ist er so gut, dass die Profis auf ihn aufmerksam werden. Irgendwann rufen bei ihm Zuhause die Bundesligatrainer an.

Oliver Roth erzählt das ungefähr so, wie er auch die aktuellen Börsenbewegungen erklärt. Moment mal, Herr Roth: Bei Ihnen! Zuhause!! Haben Bundesligatrainer angerufen!!! Ist das nicht ein unglaubliches Gefühl – träumt davon nicht jeder fußballbegeisterte Junge? „Hm“, sagt er.

In der Welt des Profifußballs gibt es harte Währungen, um Spieler zu beurteilen: Ablösesummen, Bundesligaspiele, Tore und, als Goldstandard, die Einsätze in der Nationalmannschaft. Über den Profifußballer Roth ist auf den einschlägigen Internetseiten zu lesen: Spiele Bundesliga: 1. Tore 0. Oliver Roth hat eine einzige Saison bei Dortmund in der ersten Liga gespielt und er wurde nur bei einem einzigen Bundesligaspiel eingesetzt, ohne ein Tor zu schießen.

„Wenn Sie mich nach dem Glücksgefühl fragen“, sagt Roth, „wenn ich das empfunden habe, dann nach diesem einen Bundesligaspiel, im Auto, auf der Fahrt nach Hause.“ Zwar hatte er, der Jungspieler, kein Tor geschossen, aber einige Stars der Mannschaft hatten ihm auf die Schulter geklopft: „Bist auf ’nem guten Weg“. Dieses Glück währte etwa 30 Minuten lang.

Oliver Roth ist Anfang 20, als er nach Dortmund zieht. Als Mittelstürmer ist er derjenige, der vor dem Tor auf die Bälle wartet, ohne Scheu vor harten Kopfbällen, deshalb haben ihn die Dortmunder eingekauft. Eine Position, die viel Anerkennung bringt, wenn man gut ist, und den geballten Zorn der Fans, wenn nicht. Die Spannung im ganzen Stadion konzentriert sich in dem einen Moment, in dem der Stürmer schießt. Ist das nicht ein unglaublicher Druck? Nein, sagt Oliver Roth. Er habe das Toreschießen immer als Freude empfunden. Wenn er aber beschreibt, wie das ist, in einem Stadion vor tausenden von Menschen zu spielen, dann redet er eher vom großen Druck, von Fokussierung, vom Tunnelblick, von Professionalität. Und die jubelnden Fans? Könne man während des Spiels gar nicht wahrnehmen, das schade der Konzentration.

Mal eine kitschige Frage: Wie würde das der kleine Junge finden, der früher in jeder freien Minute auf den Fußballplatz gerannt ist? „Na ja“, sagt Roth, „Wenn man sein Hobby zum Beruf macht, geht vieles, was Freude macht, verloren.“ Er sieht nicht aus, als hätte er ein Problem damit.

In Dortmund läuft es nicht gut für den jungen Mittelstürmer. Der Trainer wechselt, der Neue will, dass Roth schnell und wendig läuft, weniger im Strafraum steht und mehr über die Seite kommt. Roths eher stämmige Figur – bislang immer ein Vorteil – ist plötzlich nicht mehr erwünscht. Er soll abnehmen; das versucht er auf eigene Faust mit trockenen Brötchen und Orangensaft. Wenigstens stimmt der Verdienst: 5000 Mark im Monat. In den 80er Jahren ist das für einen 20-Jährigen sehr viel Geld. Heute würde dafür kein Jungspieler mehr morgens aufstehen. In Dortmund, das merkt er sofort, gibt es eine klare Hierarchie: „Der Verein ist eine Ich-AG“, sagt er. Ganz oben stehen die Alpha-Spieler, die den Jungen schnell klarmachen, wo der Hammer hängt. Roth erinnert sich, wie er einmal einem der Platzhirsche beim Training einen Ball durch die Beine geschossen hat. Diese Aktion – das „Tunneln“ – lässt den Gegenspieler nicht gut aussehen. Dafür zischt ihm später ein Mitspieler zu: „Ich brech’ Dir die Beine.“ Ein anderes Mal bekommt er zu hören: „Ich hau’ dich über die Stange.“ Fußball sei ein Spiegel der Gesellschaft, und zwar in männlicher Ausprägung, sagt Roth. Es habe aber auch sehr nette Kollegen gegeben.

Wieder nach Frankfurt

Wenn er nicht trainiert, sitzt er in seinem Zimmer in Dortmund, verzehrt trockene Brötchen mit Orangensaft und vermisst Freundin und Familie. Und besser soll es nicht werden, das wird ihm ausgerechnet nach seinem ersten Bundesligaeinsatz klar – nach Maßstäben des Profifußballs der Höhepunkt seiner Karriere. Als er also nach dem Spiel glücklich im Auto sitzt, hört er im Radio plötzlich seinen Namen. Sein Trainer sagt im Interview deutlich, wie wenig er von dem Jungspieler aus Frankfurt hält: „Da wusste ich, dass ich keine Chance mehr haben würde“, sagt er. „Und ich war aber auch nicht gut genug für die erste Liga.“ Nach einem Jahr geht er zurück nach Frankfurt. Er hat keinen Job, dafür sofort einen neuen Verein: Er spielt jetzt bei Rot-Weiß. Dessen Präsident, der Finanzunternehmer Wolfgang Steubing, kümmert sich und besorgt ihm Arbeit an der Börse. Es ist der Beginn seiner Doppel-Karriere: Als Vereinsheld und Börsianer.

Börsenmakler und Profifußballer – einen solchen Werdegang haben nicht viele vorzuweisen. Oliver Roth nutzt das sehr bewusst, wie ein Blick auf seine Website zeigt: Seine Agentur bewirbt ihn dort als „der smarte Kapitalmarktexperte“, und in der Rubrik „Fotos“ findet sich auch das Mannschaftsfoto von Borussia Dortmund, Spielsaison 1988/89.

Als Roth vor mehr als 20 Jahren zum ersten Mal den Handelssaal betritt, ist er sofort fasziniert. „Der Reiz war, diese Welt zu entdecken“, sagt er. Die Börse ist damals ein anderer Ort. Gehandelt wird nur ein paar Stunden lang um die Mittagszeit, die Händler sprechen eine eigene Sprache, sie drängen sich, sie schreien und fuchteln mit den Händen. Roth ist beeindruckt. In kleinen Kabinen, in die kaum ein Stuhl passt, muss er per Telefon Aufträge notieren und den Zettel dann zu den Börsenmaklern tragen – „ein Hiwi-Job“.

Alte Regeln

Es gibt damals noch einen Ehrenkodex, das bestätigen altgediente Börsianer. Es ist aber auch möglich, dass sich Händler zusammentun und jemanden abstrafen, der sich nicht an die Regeln hält. Die alte Börsenwelt hatte etwas von einem Dorfplatz mit allen Vor- und Nachteilen.

Heute läuft der größte Teil des Handels anonym, über Computersysteme. Die wenigen noch verbliebenen Händler sitzen in den oberen Etagen oder im Börsensaal, in den weißen Rondellen, die im Fernsehen wie Raumschiffe wirken. Wer direkt davor steht, sieht aber Joghurtbecher und Tupperdosen herumstehen und Bildschirmschoner mit Kinderfotos. Viele der angrenzenden Büros stehen leer. In den kleinen Telefonzellen hängen nur noch Drähte aus der Wand, die Händler nutzen sie, um Wasserkisten abzustellen.

Im Börsensaal arbeiten heute fast so viele Journalisten wie Händler und Kursmakler. NTV, ARD oder ZDF haben sogar eigene Studios, sie müssen die Kameras gar nicht mehr abbauen. Ist die alte Börse nicht nur noch eine Fernseh-Kulisse? „Nein“, sagt Oliver Roth entschieden: „Wir arbeiten hier.“

Seinen größten Erfolg – gemessen an der Begeisterung seiner Fans – hat er bei Kickers Offenbach. Dem Verein, der gerade in der Krise ist, weil ihm die Pleite droht.

Seiner alten OFC-Autogrammkarte nach zu urteilen, dürfte Roth ein ziemlicher Frauenschwarm gewesen sein. Sportler, gutaussehend, ein selbstbewusstes Lächeln in die Kamera. Oliver Roth will zu dem Thema hartnäckig nichts, aber auch gar nichts sagen. Spielerfrauen? Keine Ahnung, wie das die Kollegen gehandhabt hätten, er habe eine feste Freundin gehabt. Auch über seine Familie spricht er nicht.

Der OFC gilt in den 90ern als Mannschaft, die sich zwar nicht mehr mit der Eintracht messen kann, dafür aber immer noch treue Fans hat. Viele von ihnen erinnern sich detailreich an den 19. Juni 1999. Es ist das Spiel OFC gegen Osnabrück in Osnabrück und der Tag, an dem Oliver Roth endgültig zur Vereinslegende wird. Seit zehn Jahren spielt der OFC in unteren Klassen, es geht um den Aufstieg in die Zweite Liga. Roth wird erst spät eingewechselt und schießt dann kurz vor dem Abpfiff das entscheidende Tor. Die Agentur DPA vermeldet damals, der „Torschütze“ habe die Fans via Fernsehen „aus dem fernen Osnabrück“ aufgefordert, gemeinsam mit der Mannschaft „eine Party zu feiern“. Die Fans in Offenbach warten bis in die Nacht auf die Spieler, es gibt einen Auto-Corso durch die Stadt.

Treue Fans

Für den OFC läuft es in den kommenden Monaten dann nicht mehr so gut, die Kickers steigen sofort wieder ab. Die Fans halten Roth aber die Treue. Obwohl der auch keine Probleme hat, sich mit ihnen anzulegen. Als einer seiner Mannschaftskollegen immer wieder ausgebuht wird, nimmt Roth in der Pause das Stadion-Mikrofon in die Hand und brüllt zurück, entweder die ganze Mannschaft oder keiner.

Roth beendet im Jahr 2000 seine Spielerkarriere beim OFC und kommt später nochmal als Trainer und Manager zurück. Inzwischen konzentriert er sich auf die Arbeit an der Börse. Nach einem Studium in den USA – „man muss Bilanzen bewerten können, um diesen Job zu machen“ hat er es zum Chef der Handelsabteilung seiner Bank gebracht.

Es gibt einen Fernsehbericht, der ihn während der Finanzkrise zeigt, wie er fluchend am Telefon Aktien verkauft. Es ist ein Adrenalin-Job, bei dem man die Nerven behalten muss – dasselbe Prinzip wie im Fußball.

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